Thema Analphabetismus

 

Ständig in Angst vor der Blamage. 

In Freiburg leben mindestens 5000 Analphabeten.

 (Badische Zeitung vom 19.4.2000)

Mindestens 5000 Analphabeten leben in Freiburg, die Dunkelziffer ist vermutlich noch weit größer. Deswegen bietet die VHS seit nunmehr 20 Jahren Lese- und Rechtsschreibkurse für Erwachsene an – und nicht nur Betroffene, sondern auch Dozenten sehen sich dabei mit einer völlig neuen Art des Lehrens und Lernens.

„Die meisten schleppen das Trauma ihrer Schulzeit ein Leben lang mit“, berichtet Dieter Engelbrecht, der den Kurs „Lesen und Schreiben für Erwachsene“ der VHS leitet. 94 Prozent aller deutschen Analphabeten haben eine Schule besucht, dort aber immer nur Misserfolge und Demütigungen erlebt und die schulische Ausbildung frühzeitig abgebrochen. Sie gelten als „funktionale Analphabeten“, die zwar Buchstaben kennen, aber nicht zusammenhängend lesen und schreiben können.

Sie ergreifen zumeist eine Arbeit, für die keine weitreichenden Lese- und Schreibkenntnisse vonnöten sind. Ihren Alltag bewältigen sie meist nur mit Hilfe des Partners und vollführen wahre Eiertänze, um Situationen zu vermeiden, die ihre Schwäche offenbaren könnten. Denn als Erwachsene nicht lesen und schreiben zu können, gilt immer noch als Tabu. So benutzte ein Betroffener immer den gleichen Zug, weil ihm sowohl die Informationen des Zugfahrplans als auch die der Anzeigetafel verschlossen blieben. Oft wissen nicht einmal die Angehörigen von der ständigen Angst vor Entdeckung und Blamage begleitet, und diese Angst ist es auch, die andere als die üblichen Unterrichtsformen nötig macht.

Wenig Selbstbewusstsein

„Die Menschen, die hierher kommen, haben wenig Selbstbewusstsein, sie wollen sich zunächst einmal angenommen fühlen“, erklärt Dieter Engelbrecht. Deswegen sei eine freundliche Atmosphäre unentbehrlich. Man müsse alles vermeiden, was an Schule erinnert, so Engelbrecht : Rotstift, lautes Vorlesen vor der Gruppe und offene Kritik sind tabu. Stattdessen gibt es individuelle Betreuung in kleinen Gruppen, viel Geduld – und keine privaten Fragen. „Wer nicht reden will, muss es nicht“. Dies bedeutet auch für den erfahrenen Lehrer eine ganz neue Herausforderung. „Die meisten sind nicht fest eingebunden in eine Familie oder Wohngemeinschaft – um Erfolge erzielen zu können, müssen ihnen aber Halt und Unterstützung vermittelt werden.“

Bislang besuchen deutlich mehr Männer als Frauen Rechtschreibkurse. Um speziell Frauen zu erreichen, biete Marita Gültig bei der Initiative Frauen-Interessen des deutschen Frauenrings Freiburg ein Training für Analphabetinnen an. Erstes Ziel ist hier die Bewältigung von Alltagssituationen. Die Ziele werden von jeder Frau selbst gesetzt, manchmal beginnt das Training mit dem Lesen einer Speisekarte. Und auch hier stehen Verständnis und Mutmachen an erster Stelle. „Das Gefühl, Fehler machen zu können, ohne ausgelacht zu werden, ist für viele Frauen nach all den Jahren der Angst und des Schamgefühls das größte Erfolgserlebnis“

„Es ist unglaublich“

Umdenken ist auch bei der Wahl des Lehrmaterials nötig. Speziell auf den Lese- und Schreibunterricht für Erwachsene zugeschnittenes Material gibt es nicht. „Es ist unglaublich, dass es in einem Land in dem drei bis vier Millionen Analphabeten leben, kein einziges Lehrbuch für den Unterricht gibt“, kritisiert Marita Gültig die Verlage. So wird bei ihr wie auch in den Volkshochschulkursen mit Zeitungsartikeln gearbeitet. Auch Reklameüberschriften und Fahrpläne dienen als Übungsmaterial.

Lese- und Rechtschreibkurse sind für die Teilnehmer der Schlüssel zur Rückkehr in eine Welt voller Plakate, Hinweisschilder und Anzeigetafeln, die ihnen bisher verschlossen war. Doch nicht nur sie entwickeln sich in dieser Zeit : „Es ist ein wechselgültiger Lernprozess“, sagt Marita Gültig. „Im Kurs ist alles sehr leise“, erzählt Dieter Engelbrecht, „man muss auf jede Stimmung hören“.

Michaela Hilbert.

 

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